Ärztenetz Eutin-Malente

Grenzerfahrungen mit digitaler Kooperation und integrierten Behandlungspfaden

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ÄNEM Logo

Das Ärztenetz Eutin-Malente e. V. (ÄNEM) wurde bundesweit als erstes Ärztenetz nach § 87b SGB V von der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH) im Oktober 2013 anerkannt. Initiiert durch die Ärzteschaft, mit dem Ziel, die regionale Versorgung selbst in der Hand zu behalten, und unter Kooperation mit den ansässigen Kliniken zeigt sich das Ärztenetz bis heute als ein Pionier der integrierten digitalen Versorgung zur Überbrückung von Versorgungslücken in ländlichen Regionen. Das Netzwerk entstand weniger vor dem Hintergrund eines Versorgungsmangels als vielmehr mit dem Ziel, Ineffizienzen in der regionalen Patientenversorgung zu beheben. Seine erfolgreichen Netzwerkelemente haben Übertragungspotenzial auch für unterversorgte, überalterte Regionen. Durch seine Vorreiterrolle als anerkanntes Ärztenetz und die seither gesammelten Erfahrungen gewährt das ÄNEM wichtige Einblicke in die Möglichkeiten und aktuellen Grenzen der erfolgreichen Verstetigung eines regionalen Gesundheitsnetzwerks auch in einer Situation, in der sich bestehende Finanzierungsoptionen wandeln oder wegbrechen. Insbesondere die Vergütungssituation und die fehlende Refinanzierung von erfolgreichen Projekten treten als Hürden hervor.

Durchschnittsalter

Das Durchschnittsalter der Bevölkerung im Landkreis Ostholstein in Schleswig-Holstein liegt bei

0

Jahren

Renter/Rentnerinnen

Auf 100 Erwerbsfähige kommen im Landkreis Ostholstein in Schleswig-Holstein

0

Renterinnen und Rentner.

Ärzte/Ärztinnen

Für 100.000 Einwohner und Einwohnerinnen gibt es im Landkreis Ostholstein in Schleswig-Holstein

0

ambulante Ärztinnen und Ärzte.

Hausärzte/Hausärztinnen

Im Landkreis Ostholstein in Schleswig-Holstein sind

0 %

der Hausärzte und -ärztinnen über 60 Jahre alt.

Fachärzte/Fachärztinnen

Im Landkreis Ostholstein in Schleswig-Holstein sind

0 %

der Fachärzte und -ärztinnen über 60 Jahre alt.

  • Gründung: 2003
  • Rechtsform: ÄNEM e.V
  • Status: Einzelne Elemente verstetigt
  • Schwerpunkt: Ambulante medizinische Versorgung

Steck­brief

Gründungsmotivation

Zusammenschluss als Reaktion auf regionale Entwicklungen; Verbesserung der ambulanten medizinischen Versorgung in der Region; Intensivierung der Kooperation zwischen Hausarzt- und Facharztpraxen sowie Kliniken

Typ

Anerkanntes Praxisnetz durch die Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH) gem. § 87b SGB V

Beteiligung

Mitgliedsbeitrag im Verein

Abdeckung

42 Praxen und 64 Mitglieder, ca. 95 % der niedergelassenen Ärzte sind Mitglieder des Netzwerkes

Rolle der Netzwerkorganisation

Fungiert aktuell eher als Interessenvertretung der Ärzteschaft in der Region

Prozesse

Gemeinsam abgestimmte Behandlungspfade für Depression und Wundversorgung (aber mittlerweile ausgelaufene Projektförderungen, nur teilweise weitergenutzte Pfadelemente)

IT-Strategie

Digitale Behandlungspfade und Dokumentensteuerung umgesetzt, aber letztlich zu wenig von der Ärzteschaft in der Praxis genutzt

Innenbild großer eutiner see

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Region

Die malerischen Städtchen Eutin, Malente und Ahrensbök befinden sich in der Holsteinischen Schweiz in Ostholstein, eingebettet zwischen verbundenen Seen und Mischwäldern, nur wenige Kilometer hinter der Ostseeküste der Lübecker Bucht. Die heimische Wirtschaft wird von klein- und mittelständischen Unternehmen getragen. Handwerk, Handel, Landwirtschaft und der Tourismus prägen neben der Gesundheitswirtschaft die Region, in der etwa 30.000 Menschen leben. Mit einem Durchschnittsalter von 48,8 Jahren und einem Altenquotient von 50,6 zählt Ostholstein heute schon zu den Regionen mit der ältesten Bevölkerung der Bundesrepublik.[1]

 

Hintergrund und regionale Problematik

Das Ärztenetz Eutin-Malente e.V. (ÄNEM) ist ein bereits seit dem Jahr 2003 als Verein existierender Zusammenschluss der niedergelassenen Ärzteschaft in der Region Eutin, Malente und Ahrensbök. Es umfasste zur Gründungszeit sämtliche niedergelassenen Ärzte der Region. Auch heute sind etwa 95 % der Ärzteschaft Mitglieder im ÄNEM. Das Netz sieht seine Aufgaben in der Interessenvertretung seiner Netzwerkmitglieder und in der Zusammenarbeit sowohl untereinander als auch mit Kliniken, Pflegeeinrichtungen oder Selbsthilfegruppen in der Region. Übergeordnetes Ziel ist die Verbesserung der ambulanten medizinischen Versorgung, insbesondere durch eine intensive Kooperation zwischen Hausarzt- und Facharztpraxen sowie den ansässigen Kliniken.

 

Gründungsmotivation und Gründung

Anlass für die Gründung des Netzwerkes war der Wunsch nach einem Zusammenschluss der Ärzteschaft als Reaktion auf regionale Entwicklungen. Im Jahr 2010 sahen sich die Mediziner mit der potenziellen Perspektive des Aufkaufens von Hausarztpraxen durch eine örtliche Klinik konfrontiert, die ein eigenes MVZ errichten wollte. Dies veranlasste die niedergelassenen Ärzte, zu intervenieren, um sich eine selbstbestimmtere Zukunft für die Region zu schaffen. Daraufhin wurde die Gesundheitsnetze östliches Holstein (GöH) Management GmbH gegründet. Ihre drei Gesellschafter sind der Förderverein Gesundheitsnetz östliches Holstein e. V. (u. a. bestehend aus Mitgliedern des ÄNEM), die SANA Kliniken Ostholstein GmbH (inzwischen AMEOS Klinik) sowie das Pflegenetz im östlichen Holstein e. V. (ein Zusammenschluss zugelassener ambulanter und stationärer Pflegeeinrichtungen). Durch diese Kooperation sollen die medizinischen und pflegerischen regionalen Leistungserbringer sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich in der Region gestärkt sowie eine effiziente und am gesundheitlichen Nutzen orientierte medizinische Versorgung auf bzw. weiter ausgebaut werden.

Lessons Learned

Zur Übertragung geeignet

  • Technologische Infrastruktur für abgestimmte Behandlungspfade und Dokumentenaustausch
  • Erfolgreiche Projekte wie Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV), Wundnetz östliches Holstein
  • Praxis-Chat-System als niedrigschwelliges Kommunikationsmittel zwischen den Praxen

Hürden der Verstetigung

  • Unwille zur Pfadumsetzung, geringe Kooperationsbereitschaft im Netzwerk
  • Keine Bereitschaft der Kassen für Verträge nach § 140a SGB V trotz positiver Evaluation
  • Einigung in einem großen Verbund auf gemeinsame Standards und deren Einhaltung
  • Angst vor „scheinbarem Verlust der Professionalität“, wenn Kompetenzen durch Delegation abgegeben werden

Faktoren des Gelingens

  • Interdisziplinäre Vernetzung und regionale Kooperation zwischen niedergelassenen Ärzten, Kliniken und Pflegeeinrichtungen
  • Einigung auf gemeinsame Behandlungspfade und Verantwortlichkeiten
  • Kontinuierliches, systematisches Qualitätsmanagement zur Qualitätsüberwachung und -verbesserung

Erfolgreiche Versorgungs- und Managementelemente

Die folgenden Versorgungs- und Managementelemente zeichnen die Arbeit im ÄNEM aus:

  1. Festlegung gemeinsamer Behandlungspfade für zentrale Indikationen wie Depressionen und chronische Wunden, die stationäre, ambulante und pflegerische Versorgung umfassen. Im Projekt „Wundnetz östliches Holstein“ wurde die häufig unsystematische, unkoordinierte und mit der Verwendung teurer Wundauflagen einhergehende Behandlung bei betroffenen Patienten adressiert. Nach dem Vorbild anderer Wundnetze wurde ein gemeinsamer Dokumentationsstandard festgelegt. Ein digitaler Behandlungspfad, implementiert auf Basis aus dem Netzwerk heraus finanzierter und selbst angepasster Software, bildet den gesamten Verlauf ab und lässt die Einhaltung dokumentieren und prüfen. Durch ein Case-Management werden die Pfadeinhaltung überwacht und kontrolliert sowie Beginn und Ende der Behandlung festgehalten. Zum aktuellen Zeitpunkt sind die Förderprojekte zur Umsetzung der Behandlungspfade ausgelaufen. Etablierte Elemente wie die Nutzung bestimmter Assessments in der Diagnose halten sich jedoch trotzdem in der Versorgungspraxis.
  2. Zur Sicherung der ambulanten Versorgungsqualität im Netzwerk wird das Indikatorensystem „Qualität in Arztnetzen – Transparenz mit Routinedaten“ (QuATRo) der AOK genutzt. Erst kürzlich wurde dem ÄNEM erneut das „Prädikat Gold“ (die höchste Auszeichnung) für exzellente Qualitätsergebnisse verliehen (Stand: 08/2022). Etwa ein Viertel der behandelten Patienten im Netz ist bei der AOK versichert.
  3. Über ein Chat-System können die teilnehmenden Praxen zuverlässig und ohne großen Aufwand den direkten „Kontakt von Tresen zu Tresen“ pflegen und so zum Beispiel zügig Termine für zu überweisende Patienten anfragen und vereinbaren.

Finanzierung

Das ÄNEM wurde von der KVSH nach § 87b SGB V als bundesweit erstes Ärztenetz im Oktober 2013 anerkannt. Damit ging die Netzförderung in Höhe von anfangs 100.000 Euro pro Jahr einher, worüber der Verein das Netzwerk organisieren konnte. Zusätzlich wird ein jährlicher Mitgliedsbeitrag erhoben. Das Ärztenetz wird von der GöH Management GmbH unterstützt. Diese hat zwei Geschäftsführer, aber kein fest angestelltes Personal. Die im Ärztenetz fest angestellte Geschäftsführung (in Teilzeit) übernimmt daher ebenso Aufgaben des Netzwerkmanagements. Das Ärztenetz ist im Austausch mit den regional ansässigen Kliniken, bspw. über sektorenübergreifend relevante Themen wie das Aufnahme- und Entlassmanagement oder zur Idee für eine gemeinsame elektronische Plattform zum Austausch von Einweisungs- und Entlassungsdokumenten. Es erhält weiterhin eine Finanzierung als anerkanntes Ärztenetz. Die vom Netzwerk getragenen Verträge nach §140a SGB V sind inzwischen ausgelaufen und wurden nicht verlängert.

Ein Behandlungspfad (auch „Patientenpfad“ genannt) ist ein anerkanntes Instrument zur Beschreibung des idealtypischen Wegs eines bestimmten Patiententyps inklusive der Meilensteine im Versorgungsverlauf und der Aufgaben aller beteiligten Leistungserbringer im interdisziplinären Behandlungsteam eines Versorgungsnetzwerks. Behandlungspfade sollten evidenzbasiert, z. B. basierend auf den Empfehlungen medizinischer Leitlinien, entwickelt werden. Mit dem Einsatz von Behandlungspfaden werden insbesondere folgende Ziele verknüpft:

  • Gemeinsam abgestimmte Behandlungsstandards als Grundlage für die Versorgung im Netzwerk
  • Effiziente Nutzung von knappen Ressourcen und Vermeidung von redundanten Tätigkeiten im Behandlungsverlauf
  • Umsetzung von Leitlinienempfehlungen in die Behandlungspraxis
  • Verbesserung der Information, Kommunikation und Abstimmung im interdisziplinären Behandlungsteam und über Sektorengrenzen hinweg
UseCase2 Thomas_Schang
Wir brauchen einen Perspektivenwechsel im Gesundheitssystem: von Quantität hin zu gemeinsam erbrachter Netzwerkqualität.

Thomas Schang,
Gründer des ÄNEM

Realität des Netzbetriebs

Das ÄNEM hat viele Fürsprecher gewonnen und durch eine solide Finanzierung eine digitale Infrastruktur aufgebaut. Einzelne Netzprojekte stellten sich jedoch als herausfordernd dar, sodass sie sich nicht langfristig tragen konnten. So wurde die Dokumentation in der extra bereitgestellten Dokumentationsplattform teilweise nicht oder nur mangelhaft geführt oder Regelungen, die im Behandlungspfad vorgesehen waren, wurden missinterpretiert oder nicht befolgt. So wurden Überweisungen, die von Hausärzten und Pflege erfolgen sollten, nicht nach dem vorgesehenen Schema des Behandlungspfades angeordnet. Das Scheitern wird von ärztlicher Seite mit dem angestiegenen bürokratischen Aufwand und einer ausgebliebenen Arbeitserleichterung begründet. Dazu kamen Bedenken, dass Kompetenzen abgegeben werden und so der Eindruck entstünde, man könne Patienten nicht selbst adäquat versorgen. Quintessenz der unzureichenden Nutzung war letztlich der Rückgang der Finanzierung für die vom Netzwerk entwickelten Pfade. Dr. Thomas Schang, einer der Gründer des Netzwerks, führt hierfür einen im Gesundheitssystem liegenden Grund an: Es finde aktuell „ein Wettbewerb um Leistungsmengen zwischen dem stationären und ambulanten Bereich statt“, gleichzeitig „[...] gibt es keine Bereitschaft, die eigene Routine zu ändern und auf Augenhöhe zu kooperieren“. Er unterstreicht zudem, „dass es einen Paradigmenwechsel im Gesundheitssystem geben muss“ und „dass der Weg von Quantität hin zu gemeinsam erbrachter Netzwerkqualität geht“.

Weiterentwicklung und Perspektiven

Aktuell befindet sich das ÄNEM in einer Umbruchs- und Aufbruchsphase, die vor allem im Generationenwechsel in der Ärzteschaft und in den aktuellen regionalen Entwicklungen begründet liegt. Vordergründig besteht die Absicht, ein MVZ zu gründen und damit insbesondere für eine sichere regionale Gesundheitsversorgung in der Zukunft vorzusorgen. Zwar zeigt sich in der Region Eutin im hausärztlichen und fachärztlichen Bereich bisher keine Versorgungsnot, jedoch besteht die Sorge, dass Facharztsitze an Kliniken oder Investoren abwandern könnten. Besonders für ältere und wenig mobile Patienten würde dies die Versorgungslage verschlechtern. Dass die fachärztliche Behandlung in den ansässigen Kliniken zwar eine kurzfristige Versorgung, aber keine langfristige, umfassende Betreuung von chronisch erkrankten Patienten sicherstellen kann, hat letztlich viele Zweifler im ÄNEM von der Gründung eines eigenen MVZ überzeugt. Das MVZ soll als Genossenschaft gegründet werden und als Struktur zur Weiterentwicklung der Versorgungsangebote in der Region dienen. Neben ärztlichen Leistungen sind weitere Gesundheitsdienstleistungen wie Ernährungsberatung, Wundmanagement oder Diabeteskurse geplant.

Quelle:

Regionaldatenbank Deutschland: Tabelle abrufen (regionalstatistik.de)

  • Das Durchschnittsalter der Bevölkerung in Deutschland (Stand 31.12.2021)
  • Anzahl Rentner auf 100 Erwerbsfähige (Altenquotient, Stand 31.12.2021)
  • Anteil der Hausärzte über 60 Jahren in Prozent (Quelle: Stiftung Gesundheit)
  • Anteil der Fachärzte über 60 Jahren in Prozent (Quelle: Stiftung Gesundheit)
  • Ambulante Ärzte pro 100.000 EW (Quelle: Stiftung Gesundheit)

Literaturverzeichnis

1 Statistische Ämter des Bundes und der Länder (Hrsg. 2023): Durchschnittsalter der Bevölkerung zum Stichtag [31.12.2021]. Regionale Tiefe: Kreise und kreisfreie Städte. [02.08.2023] sowie Jugendquotient, Altenquotient zum Stichtag [31.12.2021]

Alle Beispiele